*Die Abgeordneten des Landtags Brandenburg erhalten heute einen Offenen Brief von Kay Wendel, Flüchtlingsrat Bandenburg, den wir hier dokumentieren.* Anlass sind die anhaltenden Proteste von Flüchtlingen und MenschenrechtsaktivistInnen gegen die Residenzpflicht.
*Offener Brief an die Abgeordneten des Landtags von Brandenburg
Defizite bei den Lockerungen der Residenzpflicht*
Sehr geehrte Damen und Herren,
Anfang Oktober kam der Protestmarsch der Flüchtlinge aus Bayern durch Brandenburg, derzeit ist eine Gruppe von ihnen am Brandenburger Tor in den Hungerstreik getreten, wo sie in Regen und Kälte ausharren. Sie wenden sich, neben anderen Missständen, gegen die Residenzpflicht. Denken Sie auch, dass die Residenzpflicht in Brandenburg abgeschafft ist? Leider irren Sie sich hier. Nach wie vor kann ein großer Teil der Brandenburger Flüchtlinge nicht nach Berlin reisen. Nach wie vor werden Reiseanträge in andere Bundesländer abgelehnt, nach wie vor gibt es Anzeigen und Prozesse.
Am 5. Januar wurde eine 20-jährige Kenianerin aus Hennigsdorf in Berlin-Heiligensee von der Polizei kontrolliert. Da die Ausländerbehörde Oberhavel ihr eine „Verletzung der Mitwirkungspflichten“ vorwirft, hatte sie keine Verlassenerlaubnis nach Berlin. Sie sollte ein Bußgeld von 98,50 Euro bezahlen. Im August wurde das Verfahren eingestellt.
Der kamerunische Flüchtling William K. wurde im März in Bad Belzig von mehreren Männern rassistisch beschimpft und mit einer abgebrochenen Flasche bedroht. Er fühlt sich seitdem nicht mehr sicher und möchte Bad Belzig gerne verlassen. Weil ihm eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgeworfen wird, darf er aber nicht einmal seine Freunde in Brandenburg/Havel besuchen. Sein Aufenthalt ist wie früher auf Potsdam-Mittelmark beschränkt. Eine Dauerverlassenserlaubnis nach Berlin, wo er behandelt wird, erhält er auch nicht. Er muss wie früher jede Fahrt einzeln beantragen.
Das sind keine Einzelfälle. Es gibt eine Vielzahl von Ausschlussgründen aus der neuen Regelung. Insbesondere der Ausschluss von den Lockerungen wegen „Verletzung der Mitwirkungspflichten“ trifft je nach Landkreis bis zu 50 % der geduldeten Flüchtlinge.
*Wir appellieren an Sie, die wegweisende Reform aus dem Jahr 2010 weiterzutreiben, in der jetzigen Form ist sie ein Stückwerk.*
In Artikel 17 der Verfassung des Landes Brandenburg heißt es: *„Alle Menschen haben das Recht auf Freizügigkeit.“* Freizügigkeit wird damit als Jedermannsrecht bestimmt, das nicht nur deutschen Staatsbürger/innen zusteht, sondern allen Menschen, die in Brandenburg wohnen. Die Brandenburger Verfassung geht damit über das Grundgesetz hinaus, wo Freizügigkeit als Staatsbürgerrecht gefasst wird. Die Landesverfassung sagt hier in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deutlich: *Freizügigkeit ist ein Menschenrecht, und ein Menschenrecht verwirkt man nicht durch Ladendiebstahl oder die Beurteilung eines Beamten, Mitwirkungspflichten verletzt zu haben.*
Doch nach wie vor wird dieses Grundrecht verletzt. Das betrifft überwiegend drei Problemfelder
*1. Für Asylsuchende in der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt* hat sich durch die Lockerungen nichts geändert, hier gelten nach wie vor die Regelungen des Bundesamtes. Ihr Aufenthaltsbereich ist nach wie vor auf die Stadt Eisenhüttenstadt beschränkt. Für jede Fahrt müssen sie einen Antrag stellen, und nur „zwingende Gründe“ werden anerkannt, also z.B. der Besuch eines Facharztes, dringende familiäre Angelegenheiten, der Besuch schwer kranker Familienmitglieder sowie die Teilnahme an bedeutenden religiösen Veranstaltungen. Im vergangenen Jahr wurde die gesetzliche Begrenzung der Verweildauer von maximal drei Monate häufig – in manchen Fällen bis zu acht Monaten – überschritten. Von der ZABH wurden die Betroffenen jedoch nicht informiert, dass sie sich in diesem Fall frei in Brandenburg bewegen und eine Dauerverlassenserlaubnis nach Berlin beantragen können.
*2. Für jede Fahrt in ein anderes Bundesländer außer Berlin* müssen Flüchtlinge nach wie vor einen Einzelantrag stellen, und hier zählen nur Verlassensgründe, die „zwingend“ sein müssen oder der Vermeidung einer „unbilligen Härte“ dienen sollen. Eine Umfrage des Flüchtlingsrats Brandenburg ergab, dass jeder dritte Flüchtling in Brandenburg mindestens einmal im Jahr Familienangehörige in anderen Bundesländern wie Hamburg, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen besuchen möchte. Länderübergreifende Vereinbarungen über erlaubnisfreies Reisen, wie sie nach der Änderung des Asylverfahrensgesetzes vom Juli letzten Jahres möglich sind, wurden bislang nicht getroffen.
*3. Asylsuchende, denen Straftaten vorgeworfen werden* – egal, ob es sich um ein Bagatelldelikt wie dem Diebstahl von Hühnerschenkeln im Supermarkt handelt, egal, wie lange das Delikt zurückliegt –, bekommen keine Dauerverlassenserlaubnis nach Berlin. Noch gravierender ist die Regelung für Geduldete.
Wirft ihnen die Ausländerbehörde eine *Verletzung der „Mitwirkungspflichten“* etwa bei der Passbeschaffung vor, sind sie von den anlassunabhängigen Dauererlaubnissen für Berlin ausgeschlossen. In einzelnen Fällen ist ihr Aufenthaltsbereich sogar auf den Landkreis beschränkt, wie vor den Lockerungen. Diese Sanktionsmöglichkeit wird von den Ausländerbehörden höchst unterschiedlich gehandhabt; manche verzichten darauf ganz, in anderen ist etwa die Hälfte der Geduldeten von der Erweiterung des Aufenthaltsbereichs ausgeschlossen. Für sie gilt die alte Regelung: Für jede Fahrt nach Berlin müssen sie einen einzelnen Antrag stellen.
Im Januar diesen Jahres legte das Innenministerium eine Bilanz der Neuregelungen nach einem Jahr ihrer Gültigkeit vor. Innenminister Woidke kam zum Schluss: „Die Rückmeldungen sind eindeutig: Die von manchen befürchteten Probleme nach den Lockerungen, wie verstärktes Untertauchen, Zunahme von Straftaten, Verzögerung von Asylverfahren mangels Erreichbarkeit, sind nicht eingetreten. Polizei und Justiz, Brandenburger und Berliner Behörden sowie Sozial- und Jugendbehörden sehen keine oder kaum Probleme mit den neuen Regelungen.“ (PM vom 03.01.2012)
Betrachtet man die Erfahrungen mit den Lockerungen näher, bedeuten sie, dass die offiziellen Begründungen für die räumliche Aufenthaltsbeschränkung – die Erreichbarkeit von Asylsuchenden zur Durchführung der Asylverfahren sowie die Verhinderung des Untertauchens von Geduldeten – durch diesen empirischen Praxisbeweis widerlegt wurden. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass diese Begründungen immer schon vorgeschoben waren, tatsächlich ging es um Abschreckung.
Gleichzeitig hat die „Residenzpflicht“ mit den Ausnahmeregelungen der Brandenburger Lockerungen eine neue Funktion erhalten. Sie dient heute überwiegend als Mittel der außergerichtlichen Bestrafung von sogenannten „Mitwirkungsverletzern“, auf die Druck ausgeübt werden soll. Halten wir fest: *Es gibt selbst aus ordnungspolitischer Perspektive keine sachliche Begründung für die räumliche Aufenthaltsbeschränkung, dagegen aber eine Grundrechtseinschränkung aus migrationspolitischen Erwägungen.* Ist das mit der Landesverfassung, die Freizügigkeit als Menschenrecht bestimmt, vereinbar? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz am 18. Juli unzweideutig festgestellt: *„Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“* Das gilt für das menschenwürdige Existenzminimum, es muss aber auch für das Menschenrecht auf Freizügigkeit gelten.
Daher bitten wir Sie, sich dafür einzusetzen,
* dass die Ausschlussklauseln aus den Anwendungshinweisen zur räumlichen Aufenthaltsbeschränkung gestrichen werden.
* Das Land Brandenburg sollte seine Bemühungen verstärken, mit dem Land Berlin eine länderübergreifende Vereinbarung nach § 58 Abs. 6 AsylVfG zu treffen, um das vollständig antragsfreie Reisen in das jeweils andere Bundesland zu ermöglichen.
* Ebenso sollten die Bemühungen für länderübergreifende Regelungen mit anderen Bundesländern verstärkt werden.
* Das Land Brandenburg sollte mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Verhandlungen aufnehmen, sodass Asylsuchende in der Erstaufnahmeeinrichtung nicht mehr von den Lockerungen ausgeschlossen sind. Als erster Schritt sollte der Bezirk der Ausländerbehörde, auf den der Aufenthalt beschränkt ist, erweitert werden. *
Mit freundlichen Grüßen
Kay Wendel
Flüchtlingsrat Brandenburg