Besondere Schutzbedürftigkeit
Auf die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen wie Opfern von sexueller Gewalt, Folteropfern und Betroffenen von Menschenhandel muss im Asylverfahren Rücksicht genommen werden. Dies setzt zunächst voraus, dass die Verfahren so gestaltet sind, dass die besondere Schutzbedürftigkeit überhaupt erkannt wird. Erst so können die Verfahren ihrer Situation angepasst, besondere Bedürfnisse bei den Aufnahmebedingungen sowie z.B. ein Therapiebedarf ermittelt und die nötige spezialisierte Betreuung und Behandlung eingeleitet werden.
Aktuelle Informationen und unsere Forderungen zum Thema Besondere Schutzbedürftigkeit finden sich auch in unserem Forderungskatalog (Stand August 2019).
Gesetzliche Vorgaben
Das EU Asylrecht hat stärker als bisher das deutsche Asylrecht die speziellen Bedürfnisse dieser Gruppe anerkannt und macht Vorgaben, die in Deutschland umzusetzen sind. Zugleich verpflichtet das Völkerrecht, insbesondere das UN Antifolterabkommen, zu einem besonderen Schutz von Folteropfern.
Die EU-Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Aufnahmerichtlinie, Asylverfahrensrichtlinie und Qualifikationsrichtlinie) fordern die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Berücksichtigt werden soll die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Menschen mit Behinderung, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Obwohl Frauen und LGBTI Personen nicht explizit in der EU-Richtlinie erwähnt werden, sind diese unter Umständen, etwa in Sammelunterkünften, besonders schutzbedürftig.
Damit die spezielle Situation der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge berücksichtigt werden kann, sieht Art. 22 der Aufnahmerichtlinie vor, dass die Behörden der Mitgliedstaaten beurteilen müssen, ob der/die Antragsteller_in ein/e Antragsteller_in mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme ist. Die Mitgliedstaaten ermitteln ferner, welcher Art diese Bedürfnisse sind. Damit ist ein Verfahren zur frühestmöglichen Identifizierung der speziellen Bedürfnisse erforderlich. In der Asylverfahrensrichtlinie wird klargestellt, dass die Erkennung und Dokumentation von Folter nach international anerkannten Standards zu erfolgen hat. Nur so kann sichergestellt werden, dass besonders schutzbedürftige Flüchtlinge die entsprechende Unterstützung erfahren und umgehend Zugang zur Behandlung – insbesondere Zugang zu einer adäquaten medizinischen und psychologischen Behandlung oder Betreuung – erhalten.
Die Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht, dass das Grundgesetz die Würde des Menschen und nicht nur die des deutschen Staatsbürgers schützt – folglich auch Flüchtlingen ein Leben in Würde ermöglicht werden muss – gilt in besonderer Weise für Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, da viele von ihnen entwürdigendes Leid erfahren haben und Schutz erhalten müssen. Die gesundheitliche und psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen ist in Deutschland jedoch nicht an den Standards der Versorgung von Staatsbürger_innen ausgerichtet: Der Zugang zu entsprechenden Versorgungsangeboten wird durch das Asylbewerberleistungsgesetz stark eingeschränkt. Zugleich zeigt sich, dass niedergelassene Ärzt_innen und Psychotherapeut_innen oftmals über wenig Erfahrung in der spezialisierten Diagnostik und Behandlung der Zielgruppe verfügen. Auch sind sie in der Behandlung traumatisierter Flüchtlinge mit besonderen Anforderungen konfrontiert: Die Arbeit erfolgt im interkulturellen Setting und benötigt häufig die Unterstützung von Dolmetscher_innen.
Das am 01.04.2016 in Kraft getretene Brandenburger Landesaufnahmegesetz hält in §§ 2, 9 und 15 sowie in der Durchführungsverordnung fest, dass die Belange von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen im Sinne des Artikels 21 der Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen sind.
Umsetzung in Brandenburg
Brandenburg trägt den Vorgaben der EU-Richtlinien in der Umsetzung der landesrechtlichen Vorgaben nur begrenzt Rechnung. Zwar hat das Land mit dem neuen Landesaufnahmegesetz mit der Einrichtung der Fachberatungsdienste Anlauf- und Beratungsstellen für die Belange besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge geschaffen. Die Ausgestaltung der Stellen liegt jedoch in der Hand der Landkreise, die diese Aufgabe denkbar unterschiedlich umsetzen. Es gibt kein landesweites einheitliches Verfahren für die Feststellung und Versorgung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge, in vielen Landkreisen fehlt es gänzlich. Die Regeldienste wie Krankenhäuser, Psychiatrische Institutsambulanzen oder sozialpsychiatrische Dienste sind in den meisten Landkreisen nicht in der Lage, oder sehen sich nicht als zuständig dafür, besonders Schutzbedürftige zu versorgen. Das Fehlen von Dolmetscher_innen und Kenntnissen etwa im Umgang mit Traumatisierten erschwert diesen Umstand weiter. Flüchtlinge sind im nationalen Versorgungsplan nicht aufgenommen und die Fachberatungsdienste können je nach Landkreis der Aufgabe, die Versorgung besonders Schutzbedürftiger sicher zu stellen, nicht angemessen nachkommen.
Im Flächenland Brandenburg ist der Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung und psychosozialen Angeboten stark eingeschränkt. Die mit dem Landtagsbeschluss von 2012 beschlossene Einrichtung und Finanzierung eines Psychosozialen Zentrums für Geflüchtete, wie sie in den meisten anderen Bundesländern existieren, wurde nicht umgesetzt.
Die Bundesregierung hat klargestellt, dass das im Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehene Ermessen über die erforderlichen Leistungen bei besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen entfällt, so dass diese die erforderlichen Leistungen aus dem Leistungskatalog im Sozialgesetzbuch (SGB) XII erhalten. In analoger Anwendung dieser Bestimmungen sind die dort normierten Leistungen für besonders Schutzbedürftige gemäß § 6 Abs. 1 AsylbLG auch Asylsuchenden als Rechtsansprüche zu gewähren. Hier besteht weiterhin ein Regelungsbedarf seitens des Bundeslandes. Sozialämter im ganzen Bundesland verwehren Leistungen, die besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden analog zu SGB XII Leistungen zustehen, immer wieder rechtswidrig.
Der Flüchtlingsrat fordert die einheitliche Umsetzung der EU Aufnahmerichtlinie durch ein landesweites Konzept zur Feststellung, Weiterleitung und Versorgung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge. Dies ist nur mithilfe psychosozialer Einrichtungen und anderer spezialisierter Einrichtungen möglich, die für Asylsuchende den Zugang zur Regelversorgung erleichtern. Der Flüchtlingsrat fordert daher die Regelfinanzierung eines Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge in Brandenburg. Außerdem soll das Land die Umsetzung des §6 AsylbLG dahingehend regeln, als das für besonders Schutzbedürftige bei Entscheidungen über die Leistungsgewährung der Ermessensspielraum der Sozialbehörden entfällt und die Versorgung analog zu SGB XII erfolgt.
Besonders Schutzbedürftige im Asylverfahren
Das Land erfüllt darüber hinaus die Vorgabe, die vorliegenden besonderen Bedarfe im Sinne der EU-AufnRL frühestmöglich während des Asylverfahrens festzustellen und eine Versorgung sicherzustellen, nicht. In der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes gibt es kein Verfahren für die Feststellung, Weiterleitung und Versorgung besonders Schutzbedürftiger. In der Antwort auf die Große Anfrage der Grünen vom 10.Oktober 2016 gibt die Landesregierung an, im Jahr 2016 nur 115 Fälle von besonderer Schutzbedürftigkeit an das BAMF weitergeleitet zu haben. Ob im Asylverfahren und bei der Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge ihren Belangen und Versorgungsbedarfen entsprochen wird, bleibt dem Zufall bzw. dem Einzelfall überlassen. Die flächendeckende Einführung beschleunigter Asylverfahren verschärft diese Situation weiter. Aber gerade im Fall von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden müssen alle Umstände, die verfahrensrelevant sind, mit besonderer Sorgfalt ermittelt werden. Das EU-recht spricht vulnerablen Flüchtlingen besondere Verfahrensgarantien zu, die für die Frage, ob jemand Schutz bekommt oder abgeschoben werden darf, entscheidend sein können. Dies ist etwa im Fall von traumatisierten Menschen in extrem kurzen Verfahren von wenigen Wochen und Tagen kaum möglich.
Laut EU-AsylverfahrensRL muss die Feststellung besonderer Schutzbdürftigkeit zu einer Entschleunigung des Asylverfahrens führen, was in Brandenburg regelmäßig nicht umgesetzt wird.
Mangelnde Versorgung in der Erstaufnahmeeinrichtung
Der Psychosoziale Dienst der Erstaufnahmeeinrichtung steht für Notfälle und einzelne Gespräche zur Verfügung, führt aber nicht selbst Therapien durch und vermittelt nicht an niedergelassene Therapeut_innen. Geflüchteten steht es nicht frei, den/die behandelnde Ärzt_in selbst auszusuchen. Einrichtungseigenes medizinisches Personal entscheidet darüber, ob eine Weiterleitung an fachärztliche Stellen erfolgt. Das System der gesundheitlichen Versorgung ist in der Erstaufnahmeeinrichtung auf die Notfall- und Schmerzbehandlung, wie sie in der Regel im AsylbLG vorgesehen ist, ausgerichtet. Es sieht die erforderliche Behandlung im Sinne des SGB XII erst nach der Verteilung auf die Landkreise vor. Die fehlende Erkennung besonderer Bedarfe und das Nadelöhr-Prinzip der Weiterleitung an die erforderliche fachmedizinische Versorgung führt immer wieder zu akuter Unterversorgung besonders Schutzbedürftiger. Dies bestätigen zahlreiche Einzelfälle, die dem Flüchtlingsrat regelmäßig gemeldet werden.
Der Flüchtlingsrat fordert auch in der Erstaufnahmeeinrichtung die Umsetzung eines Konzeptes zur systematischen Erkennung, Weiterleitung, Unterbringung und Versorgung besonders Schutzbedürftiger. Sofern dies im Rahmen der Einrichtung nicht möglich ist, sind besonders Schutzbedürftige unverzüglich auf die Landkreise zu verteilen. Der Flüchtlingsrat fordert den Zugang zu unabhängigen und qualifizierten Beratungs- und Unterstützungsstrukturen im Rahmen der Erstaufnahmeeinrichtung mit dem Ziel der besseren Berücksichtigung besonderer Schutzbedürftigkeit im Asylverfahren. Der Flüchtlingsrat fordert den Übergang der Zuständigkeit für die materielle und gesundheitliche Versorgung besonders Schutzbedürftiger vom Ministerium für Inneres und Kommunales auf das fachlich zuständige Ministerium für Gesundheit und Soziales.
- Handreichung „Empowerment Now: Selbstvertretung von Geflüchteten mit Behinderung“. Hg. handicap international. 2021.
- Identifizierung besonderer Schutzbedürftigkeit am Beispiel von Personen mit Traumafolgestörungen. Status quo in den Bundesländern, Modelle und Herausforderungen. Hg. BAfF e.V.. Juni 2020.
- Schutzsuchende mit besonderen Bedürfnissen. Hg. Informationsverbund Asyl und Migration.
- Gesundheitsversorgung. Hg. Informationsverbund Asyl und Migration.
- Positionspapier zum Umgang mit besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Hg. Forum Menschenrechte. Januar 2014.
- Frühfeststellung und Versorgung traumatisierter Flüchtlinge. Konzepte und Modelle zur Umsetzung der EU-Richtlinien für besonders schutzbedürftige Asylsuchende. Hg. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.). September 2015.
- Hintergrundmaterial. Hg. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.).
- Unterstützung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Hg. Flüchtlingsrat Baden-Württemberg.