h6. Rose Gerdts-Schiffer, Frankfurter Rundschau
h6. Zabida Alzayn aus Soest wurde mit ihren sieben Söhnen und Töchtern in die Türkei abgeschoben – ein Besuch in dem Dorf, das die neue „Heimat“ sein soll.
15 Kinder hat Adva geboren. Die Alte ist Kindergezänk und Enge gewöhnt. Als Zabida Alzayn, die fremde Frau aus Deutschland, mit ihren sieben Kindern in Ückavak aus dem Bus stieg, hat Adva sie aufgenommen. In dem aus Felsgestein gemauerten Raum über dem Stall. Seitdem schlafen sie zu elft in der Wohnhöhle. Zusammen mit Advas Schwiegertochter und dem Baby. Doch nun hat die Alte gedroht: „Wenn der kalte Regen kommt, müsst ihr gehen.“ – „Dann“, sagt Zabida und wiegt ihr Gesicht in beiden Händen, „dann bringe ich mich um.“
Mehrere tausend Kilometer entfernt sitzt Zabidas Mann Mahmoud allein in seiner Wohnung in Soest. Bis zum 12. Juni lebten die beiden dort mit ihren sieben Kindern im Alter zwischen einem und zwölf Jahren. Doch an diesem Juni-Morgen wurde die Familie aus dem Schlaf gerissen. „Die Polizei hat unsere Tür aufgebrochen, geschrieen und mir befohlen, alle Kinder schnell anzuziehen“, sagt Zabida mit gepresster Stimme. Während ihr Mann abgeführt wird, pinkelten die kleinen Kinder vor Angst in die Hosen. Mona und Amera weinten und klammerten sich an die Mutter.
Bis zu ihrer überfallartigen Abschiebung gingen Mona, Jakob und Yusuf in die Astrid-Lindgren-Grundschule in Soest, die Kleinen in den Kindergarten. Sie kennen die Türkei nicht, dieses Land, von dem die Behörden als ihre „Heimat“ sprechen, und sie verstehen auch kein türkisch. Die Sprachen, die sie beherrschen, sind Arabisch und Deutsch. Heimat, dass ist für Yusuf der TSG-Soest Süd, sein Fußballverein. Da spielte er im Sturm. Für seine Mannschaft hatte Yusuf bis zu der Abschiebung 14 Tore geschossen. „Mein Trainer hat mich geliebt – und ich ihn auch“, sagt der Junge mit den feingliedrigen, schmalen Händen.
In Ückavak gibt es keinen Sportverein und keine D-Jugend. An der Grenze zu Syrien, mitten im windigen Bergland, gibt es nur Zeit. Stunde um Stunde zäh dahinfließender Momente. „Ein Tag ist hier wie ein Jahr“, sagt Zabida nervös und bindet ihr Kopftuch neu.
Statt morgens seinen Schulranzen zu packen, muss Yusuf die Kühe der alten Adva in die Berge treiben oder mit seinen Schwestern Mariam und Mona betteln gehen. Die Ausbeute ist gering. Die Dörfler sind arm. Meist ergattern die Mädchen nur hart gewordenes Brot. Manchmal erbarmt sich eine Nachbarin und gibt den Kindern ein paar Eier, schrumpelige Kartoffeln und Milch mit. Doch die Stimmung gegenüber den Fremden ist ablehnend.
Zabida gehört nicht dazu, hat keine Familie im Dorf und vor allem keinen Mann an ihrer Seite. Niemand unter dessen Schutz sie in der archaischen Dorfgemeinschaft steht. „Eine Frau allein kann hier nicht leben“, sagt der Imam entschieden und schüttelt allein bei der Vorstellung empört den Kopf.
Auch könne sie nicht eine leer stehende Hütte für sich und ihre Kinder anmieten, um der Enge mit Adva zu entfliehen. Kultur und Tradition scheren sich nicht um die Not von Zabida oder die der Dörfler, die ein paar Euro im Monat dringend gebrauchen könnten. „Niemand wird ihr ein Haus vermieten, niemand ihr Arbeit geben“, sagt der Bürgermeister entschieden. Auch in den Städten werde dies nicht anders sein.
Die gesellschaftliche Stellung einer Frau spiegelt sich in der Türkei auch rechtlich wieder. Ohne ihren Mann kann Zabida ihre Kinder auf der Meldebehörde in der nächsten Stadt nicht anmelden. Ohne Registrierung aber gibt es keine Pässe für die Kinder. Selbst die ärmliche Dorfschule in Ückavak, nur 100 Meter von ihrer Hütte entfernt, wird damit für Yusuf und seine Geschwister unerreichbar. „Zur Zeit sind die Kinder illegal in der Türkei“, sagt der Bürgermeister nüchtern und nippt an seinem stark gesüßten Tee. „Vielleicht“ könne eine beglaubigte Heiratsurkunde aus Deutschland helfen. Vielleicht.
Zabida Alzayn heißt in den Akten der Soester Behörden Gürci Baran. Während die junge Mutter angibt, in Libanon geboren zu sein, sind die Beamten überzeugt, sie sei in Ückavak zur Welt gekommen und damit Türkin. Ihre Eltern aber hatten 1988 bei der Einreise nach Deutschland angegeben, staatenlose Kurden aus Libanon zu sein. Folglich konnten sie nicht mehr abgeschoben werden. In mehreren deutschen Städten wird die Flüchtlingsgruppe der staatenlosen Kurden inzwischen als „Schein-Libanesen“ bezeichnet. Hatten die deutschen Ermittler doch in vielen Fällen Einträge über die betroffenen Personen in den Registerauszügen der türkischen Heimatbehörden wiedergefunden.
Doch dass dies ein klarer Beweis für die türkische Identität der Flüchtlinge ist, wird inzwischen von Anwälten bezweifelt. Denn die Aussagekraft der Register in den einzelnen Kommunen hatte im März 2001 zu Schlagzeilen in der türkischen Presse geführt. Bei der Volkszählung war aufgeflogen, dass in 207 000 Fällen fiktive Eintragungen in die Register vorgenommen worden waren. Kommunen gelangten mit diesem simplen Trick in den Status einer Stadt und damit in den Genuss höherer Beihilfen der „Bank der Provinzen“.
Im Fall von Zabida gibt es allerdings tatsächlich eine Verbindung nach Ückavak. „Mein Großvater soll hier früher eine Weile gelebt haben.“ Doch irgendwann seien ihre Vorfahren in den Libanon gezogen, der Arbeit wegen. Als dort viele Jahre später der Bürgerkrieg ausbrach, seien ihre Eltern in die Türkei geflüchtet und später nach Deutschland. Grenzgänger der Geschichte? Für die Behörden sind sie schlicht Betrüger, die zu Unrecht Sozialhilfe bezogen haben. Zabida selbst war noch ein Kind, als ihre Eltern sie bei der Einreise nach Deutschland als kurdische Libanesin anmeldeten. Das schützt sie jedoch nicht davor, Jahre später ebenfalls als Betrügerin abgestempelt und ins Nichts abgeschoben zu werden.
Ihr Mann Mahmoud muss vorerst in Soest bleiben. Wie lange, weiß niemand zu sagen. Da er als junger Mann in Deutschland nicht den Wehrdienst in der Türkei angetreten hatte, wurde er von den Türken zwangsausgebürgert. „Eine Wiedereinbürgerung aber dauert Jahre“, ist der Imam in Ückavak überzeugt. Davon geht auch die Soester Amnesty International-Gruppe aus, die den Fall inzwischen aus humanitären Gründen betreut. Ein Soester Psychiater bestätigte dem siebenfachen Vater im August massive Schlafstörungen, Ängste und schwere Depressionen. Nach Einschätzung der Flüchtlingsberater beim Diakonischen Werk in Soest ist Mahmoud nach der traumatisch erlebten Abschiebung seiner Familie am Ende seiner Kräfte. Dank des Imam in Ückavak, der ein Telefon besitzt, können sich die Eheleute zumindest ab und an sprechen. Kurze, hastige Gespräche sind das ohne Trost.
„Wir haben nie geklaut und nie geraubt und trotzdem behandelt man uns so“, klagt sie und wiegt ihr Baby Ayub in ihrem Schoß. Wenn es in Deutschland Menschenrechte gäbe, dann müsste das Land diese Mutter und ihre Kinder zurücknehmen, hatte der Imam betont. „Es sind deutsche Kinder. Sie sind alle dort geboren. Bei uns haben sie keine Chance.“ Auch Yusuf ist, wie so oft, mit seinen Gedanken in Deutschland. Bei seiner Fußballmannschaft, der D2. „Die sind jetzt nach dem Sommer eins aufgerückt“ erzählt der Zwölfjährige, und er strahlt für einen kurzen Moment. „Wer jetzt wohl für mich rechts außen spielt?“