Als Teil eines Bündnisses von mehr als 50 Organisationen fordert PRO ASYL die Bundesregierung zur Abkehr von ihren Plänen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf. Mit Blick auf das Treffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023 appelliert das Bündnis an Innenministerin Nancy Faeser (SPD), ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen. Es darf keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes geben.
Am 8. und 9. Juni 2023 treffen sich die EU-Innenminister*innen im Rat der Europäischen Union (EU), um sich politisch auf Regelungen zu einigen, die schwerwiegende Folgen haben würden: Unter anderem wird diskutiert, verpflichtende Grenzverfahren einzuführen, das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ auszuweiten und am Dublin-System festzuhalten. Die unterzeichnenden Organisationen sind enttäuscht von der kürzlich bekannt gewordenen Position der Bundesregierung zu diesen Vorhaben und halten in einem gemeinsamen Statement fest: „Anstatt sich dem Trend der Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte und der Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze entschieden entgegenzustellen, signalisiert die Regierung mit ihrer Position die Bereitschaft, diesen Weg, um jeden Preis mitzugehen. Damit gerät sie in eklatanten Widerspruch zu zentralen Versprechen des Koalitionsvertrags.“
„Unter Druck von rechtspopulistischen Regierungen von Rom bis Budapest wird in Europa gerade an einer weitgehenden Abschaffung des Flüchtlingsschutzes gearbeitet. Daran darf sich die Bundesregierung nicht beteiligen! Es geht um mehr als das Asylrecht, es geht um die Grundlagen der Europäischen Union. Der Zugang zum Recht auf Asyl, das Recht auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren, die Überprüfung behördlichen Handelns durch Gerichte und vor allem der Schutz der Würde der Schutzsuchenden ist keine politische Verhandlungsmasse, um faule Kompromisse zu erzielen “, so Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Aushebelung des Flüchtlingsschutzes durch Prüfung von „sicheren Drittstaaten“ in Grenzverfahren
In den geplanten verpflichtenden Grenzverfahren werden absehbar keine Fluchtgründe der Schutzsuchenden geprüft, sondern nur, in welchen außereuropäischen Drittstaat die fliehenden Menschen geschickt werden können. Schutzsuchende könnten dann in ein außereuropäisches Land abgeschoben werden, in dem sie möglicherweise nicht in allen Landesteilen sicher sind oder in dem sie noch nie waren. Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention müsste dort ebenfalls nicht gewährt werden – nach der deutschen Position soll der Schutz zwar im Wesentlichen der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen und eine Verbindung zu dem Land soll bestehen, gemäß anderer im Rat diskutierter Vorschläge liegen die Anforderungen an den Schutz jedoch weit unter diesem Niveau. Setzt sich ein solcher Vorschlag durch, wird dies voraussichtlich massiv die Gefahr völkerrechtswidriger Kettenabschiebungen in Herkunftsländer wie Syrien oder Afghanistan erhöhen. Dies wird von den Organisationen im gemeinsamen Statement wie folgt kommentiert: „Das bedeutet einen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union, vergleichbar mit dem deutschen Asylkompromiss vor dreißig Jahren.“
In Kombination mit der Anwendung des Konzepts der “Fiktion der Nicht-Einreise“ können die Grenzverfahren auch nur durch Inhaftierung der Schutzsuchenden umgesetzt werden.
Zugang zu Asyl darf nicht zur Verhandlungsmasse werden
Zudem soll am eigentlich gescheiterten Dublin-System – das zur Überlastung von Außengrenzstaaten führt – festgehalten und dieses sogar noch verschärft werden. Ein wirksamer Solidaritätsmechanismus bei dem Asylsuchenden auch von anderen Mitgliedstaaten als den Außengrenzstaaten aufgenommen werden, wird dagegen nicht ernsthaft verhandelt. Denn aktuell soll die „Solidarität“ auch durch Geldzahlungen oder materiellen Leistungen erbracht werden können – sogar in außereuropäischen Drittstaaten. Anstatt Flüchtlingsaufnahme, würde so also die Externalisierung des europäischen Grenzschutzes als Solidarität verbucht werden.
„Die Bundesregierung darf nicht den Fehler machen, den Zugang zum Recht auf Asyl gegen einen angeblichen Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten zu verhandeln. Dass es soweit in Europa gekommen ist, zeigt, dass eine Reform mit den aktuellen politischen Mehrheitsverhältnissen absehbar nur zu einer massiven Verschlechterung für nach Europa fliehende Menschen führt. Stattdessen sollten Bundesregierung und die Europäische Kommission sich für eine Einhaltung der bestehenden Standards für Asylverfahren und Aufnahme von Asylsuchenden sowie für ein Ende der illegalen Pushbacks einsetzen“, fordert Wiebke Judith abschließend.
Hintergrund zu den Reformvorhaben
Bezüglich der Reformvorschläge der Europäischen Kommission aus dem Herbst 2020 war sich die Bundesregierung zu entscheidenden Punkten wie den Grenzverfahren, der Anwendung von „sicheren Drittstaaten“ und den künftigen Zuständigkeitsregeln lange uneins. Seit dem 26. April 2023 gibt es ein Prioritätenpapier der Bundesregierung, laut dem auch verpflichtende Grenzverfahren in Kauf genommen werden sollen.
Bis zum nächsten Ratstreffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023 müssen sich die Mitgliedstaaten auf Verhandlungspositionen einigen, um den Reformprozess bis zur Europawahl im Frühjahr 2024 abschließen zu können.
Infomaterial
Link zum gemeinsamen Statement: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/Gemeinsames-Statement_GEAS_16.05.2023_final.pdf
PRO ASYL hat in einem Kurzpositionspapier die wichtigsten menschenrechtlichen roten Linien für die Verhandlung benannt: https://www.proasyl.de/material/notwendige-rote-linien-der-bundesregierung-fuer-die-verhandlungen-zum-new-pact-on-migration-and-asylum/
In der Sachverständigenanhörung im Bundestag zur europäischen Flüchtlingspolitik hat Wiebke Judith als rechtspolitische Sprecherin für PRO ASYL auf die Gefahren der Reform hingewiesen: https://www.proasyl.de/material/stellungnahme-zur-oeffentlichen-anhoerung-des-innenausschusses-zur-reform-des-gemeinsamen-europaeischen-asylsystems-geas/
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