Der Flüchtlingsrat hat einen offenen Brief an Ministerpräsident Woidke und Ministerin Golze zur Perspektive der Migrationssozialarbeit als Fachberatungsdienst in Brandenburg veröffentlicht. Der Brief wurde bisher von 43 Willkommensinitiativen und engagierten Einzelpersonen mitgezeichnet.

Auch Sie wollen/Ihr wollt das Anliegen unterstützen und den Brief mitzeichnen? Schreiben Sie uns/Schreibt uns eine e-Mail an info[at]fluechtlingsrat-brandenburg.de

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Offener Brief zur Perspektive der Migrationssozialarbeit als Fachberatungsdienst in Brandenburg

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,
sehr geehrte Frau Ministerin Golze,
wir unterstützen nachdrücklich die mit dem Landesaufnahmegesetz beschlossene Ausweitung der Migrationssozialarbeit. Schutzsuchende Menschen sind in vielen Lebenslagen auf eine kompetente Beratung angewiesen, die sie dabei unterstützt, ihre Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Die überregionalen und auch einzelne regionale Flüchtlingsberatungsstellen in Brandenburg bringen diese Kompetenzen mit und haben in ihrer langjährigen Arbeit eine sehr gute Vernetzung vor Ort aufgebaut. Das Landesaufnahmegesetz übergibt die Bereitstellung der Migrationssozialarbeit als Fachberatungsdienst allerdings in die Hände der Landkreise und kreisfreien Städte, womit aus unserer Sicht einige Probleme verbunden sind.
Die erfolgreiche, in vielen Jahren gewachsene und vor Ort gut verankerte Arbeit der bestehenden unabhängigen und überregional arbeitenden Beratungsstellen wird mit der Kann-Bestimmung in § 12 Abs. 2 LAufnG ganz real aufs Spiel gesetzt, wie erste Erfahrungen bereits jetzt zeigen. Da kein landeseinheitliches Verfahren vorgesehen ist, droht den bestehenden Strukturen in ersten Landkreisen die Entziehung ihrer Existenzgrundlage – etwa in Oberhavel, wo der Landkreis eine Gesellschaft in eigener Trägerschaft gegründet hat, ohne das bestehende Angebot zu beachten. In anderen Landkreisen ist eine Übertragung auf Träger erwartbar, die enge Verbindungen zu Politik und Verwaltung pflegen und kaum praktische Erfahrungen in der Flüchtlingssozialarbeit vorweisen – das bisherige erfolgreiche Konzept wird nicht ausgeweitet, sondern unterhöhlt.
Wir wollen das an zwei ausgewählten Punkten verdeutlichen:
Alles aus einer Hand?
Die Landkreise und kreisfreien Städte sind neben ihrer Zuständigkeit für die Migrationssozialarbeit als Fachberatungsdienst häufig auch für die Unterbringung – oft in Gemeinschaftsunterkünften – und mit den Ausländerbehörden auch für den Vollzug des Ausländerrechts zuständig. Beratungsarbeit, die immer die individuellen Bedürfnisse von Ratsuchenden in den Mittelpunkt stellt, wird unter den Zweifel gestellt, dass eine – vermeintliche oder tatsächliche – Abhängigkeit der Beratungsstelle vorliege. Es kann zu Interessens- und Loyalitätskonflikten mit dem Arbeitgeber kommen, ggf. unbequeme Beratungsarbeit, etwa wo es um das Sozialamt oder die Ausländerbehörde geht, wird erschwert bzw. unmöglich gemacht. Es ist zu erwarten, dass das Vertrauensverhältnis zu Geflüchteten und vielfach auch zu ehrenamtlichen Begleiter_innen, Dolmetscher_innen und anderen Unterstützer_innen aufgrund der Neustrukturierung maßgeblich und bleibend gestört wird.
Bereits in ihrem offenen Brief vom 14. Dezember 2015, als das LAufnG erst im Entwurf vorlag, hatten die flüchtlingspolitischen und Willkommens-Initiativen im Land Brandenburg dazu geschrieben:
„Unsere Erfahrungen mit Entlassungen engagierter SozialarbeiterInnen und BeraterInnen in den Landkreisen lassen uns um unabhängige Beratung fürchten. Eine vertrauenswürdige Beratungsstelle muss auch gegenüber der Praxis der Ausländerbehörde kritisch sein können. Wenn sie strukturell von der Institution abhängig ist, die sie kritisieren soll, entstehen Interessenkonflikte. Gute Beratung ist unserer Erfahrung nach eines der häufigsten Bedürfnisse von Geflüchteten. Die gleiche Erfahrung machen diejenigen von uns, die an Erstaufnahmeeinrichtungen tätig sind.“1
Subsidiarität!
Wir schließen uns der Einschätzung der LIGA der freien Wohlfahrtspflege an, die in der Kann-Regelung eine Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip sieht – der Staat soll erst dann tätig werden, wenn in der Vielfalt der Trägerlandschaft niemand gefunden werden kann, der/die das Angebote ermöglicht. Wir betrachten mit Sorge, wie immer neue Verwaltungsstrukturen aus dem Boden sprießen, und zwar längst nicht nur in der Beratung von Asylsuchenden und Geduldeten. Durch die zu befürchtende Umkehr vom Prinzip vielfältiger, freier und vor allem unabhängiger Profile in der Beratungsarbeit wäre ein Qualitätsverlust zu befürchten, der dem Geist des Grundgesetzes widerspricht.

Beratung im Interesse von Asylsuchenden und Geduldeten: unabhängig und parteiisch!

Vor diesem Hintergrund wollen wir Sie eindringlich darum bitten, nicht nur eine zielgruppenspezifische, sondern vor allem eine zielgruppengerechte Migrationssozialarbeit als Fachberatungsdienst in Brandenburg sicherzustellen. Die „aus ihrer Aufnahme- und Aufenthaltssituation begründeten besonderen Lebenslagen“ von Asylsuchenden und Geduldeten machen es geradezu erforderlich, für die in § 12 LAufnG beschriebenen Aufgaben keine kommunale Trägerschaft zu ermöglichen, sonst steht nicht nur die langjährige Expertise der bisherigen Berater_innen auf dem Spiel, sondern der Sinn des ganzen Unterfangens. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Interessen von Schutzsuchenden und kommunalen Verwaltungen nicht zusammenfallen, sich oft sogar widersprechen. Beratungsarbeit muss stets parteiisch im Sinn der Ratsuchenden sein.
Diese Beratung muss auch und gerade das Recht auf Information über den Verlauf des Asylverfahrens sowie behördliche Entscheidungen, die die Person unmittelbar betreffen, umfassen. Dazu gehören aber auch das Recht auf Rechtsbehelfe und unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung in Rechtsbehelfsverfahren sowie das Recht auf unentgeltliche Erteilung von rechts- und verfahrenstechnischen Auskünften, das Recht auf Begleitung zu Anhörungen beim BAMF durch eine_n Rechtsanwält_in oder „sonstigen nach nationalem Recht zugelassenen oder zulässigen Rechtsberatern“.2 Dies ist Schutzsuchenden in Brandenburg nur dann möglich, wenn sie einen Zugang zu einer Beratung haben, von der sie nicht nur sachkundig, sondern auch unabhängig von Interessen Dritter – d.h. auch weisungsungebunden – über ihre Pflichten im Asylverfahren, aber auch über andere sie betreffende rechtliche Regelungen informiert und beraten werden. Die Wohlfahrtsverbände in Brandenburg und freie Träger bieten seit vielen Jahren eine solche Beratung an, weil insbesondere im ländlichen Raum Fachanwält_innen fehlen. Sie berücksichtigen dabei Qualitätsstandards und die Bestimmungen des Rechtsdienstleistungsgesetzes.
Wir appellieren deswegen an Sie, alles Ihnen Mögliche zu tun, um die bisherigen unabhängigen Beratungsstrukturen in ihrer Existenz zu sichern und für die neu aufzubauenden Strukturen zu gewährleisten, dass konzeptionell, personell und institutionell Unabhängigkeit gegeben ist. Die ausstehenden Verordnungen zum LAufnG sollen unter allen Umständen dazu genutzt werden, die Qualität der Beratung sicherzustellen.
Mit freundlichen Grüßen
Flüchtlingsrat Brandenburg
0331 – 71 64 99
Dieser Brief wird unterstützt von:
Barnimer Kampagne „Light me Amadeu“, Eberswalde
ESTAruppin e.V.
Evangelische Jugend Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
Farfalla, Waßmannsdorf
FluMiCo – Flucht & Migration Cottbus
Flüchtlingshilfe Großbeeren e.V.
Hennigsdorfer Ratschlag
Initiative Barnim für alle
Kontakt- und Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, Bernau
Landesjugendring Brandenburg e.V.
Netzwerk Flucht und Migration Stadt Guben
Perleberg hilft
Vielfalt statt Einfalt – für ein freundliches Frankfurt (Oder)
Willkommen in Falkensee
Willkommen in Fürstenberg
Willkommensinitiative Joachimsthal
Willkommen in Oberhavel
Willkommen in Oberkrämer, Leegebruch und Velten
Willkommen in Oranienburg e.V.
Willkommen in Wandlitz/AG Basdorf
Willkommen in Zehdenick
Pfarrer Andreas Domke, Vorsitzender der Synodalen AG „Flucht und Migration“ des Kirchenkreises Oberes Havelland
Angela Rößler, Potsdam-Konvoi
Annelies Rackow, Verein zur Förderung der Lebensqualität VFL-Bautzen e.V., Schlieben
Bärbel Böer, Flüchtlingsnetzwerkkoordination, Brandenburg an der Havel
Franziska Kusserow, Potsdam-Konvoi
Hildegard Nies-Nachtsheim, Willkommenskreis Neuhardenberg e.V.
Horst Nachtsheim, Willkommenskreis Neuhardenberg e.V.
Klaus Kohlenberg, Freie Asylsuchenden-Beratungsstelle in Oranienburg-Lehnitz
Marianne Strohmeyer, Multitudeinitiative
Mathias Tretschog, Schluss mit Hass
Rainer E. Klemke, Willkommensteam des Bürgervereins Groß Schönebeck
Andrea Honsberg, Eberswalde
Anke Przybilla, Wandlitz
Barbara Matthies, Großbeeren
Claudia Gröhn, Jüterbog
Cornelia Bellaroussi
Dr. Darja Brandenburg, Ludwigsfelde
Esther Kroll
Gabriele Jaschke
Lynne Hunger, Potsdam
Dr. Margarete Steger
Michael Elte, Oranienburg
1 Den vollständigen Brief finden Sie auch hier: https://www.fluechtlingsrat-brandenburg.de/wp-content/uploads/2015/12/Offener_Brief_Initiativen_151215.pdf
2 Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU, Artikel 19–23, und Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU, Kapitel V, Artikel 26, beide veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union vom 29.06.2013.