Die Stellungnahme wurde am 10.11.2022 veröffentlicht. Auch nach der Veröffentlichung kann sie von Initiativen und Organisationen weiter unterzeichnet werden. Wir bitten um Mitteilung an: info@fluechtlingsrat-brandenburg.de
Die Unterzeichnenden lehnen die aktuellen Pläne zum Bau eines sogenannten Ein- und Ausreisezentrums am Flughafen BER in Schönefeld aus menschenrechtlichen und humanitären Gründen ab. Den geplanten Ausbau von Haftplätzen für Geflüchtete sowie die geplante Ausweitung von Asylschnellverfahren am Flughafen lehnen die Unterzeichnenden ab. Sie fordern das Land Brandenburg sowie die Bundesregierung auf, auf die Errichtung und Inbetriebnahme eines solchen „Behördenzentrums“ zu verzichten. Anstelle eines hunderte Millionen schweren Prestigeprojektes mit dem Fokus auf Abschottung und Abschiebungen braucht es dringend mehr Investitionen im Bereich Teilhabe sowie faire und rechtsstaatliche Asylverfahren. Flughafenasylverfahren müssen abgeschafft, die bestehende Haftanstalt am BER geschlossen und die Inhaftierung von Geflüchteten beendet werden.
Begründung:
1) Flughafenasylverfahren sind rechtsstaatlich fragwürdig und müssen abgeschafft werden
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Zentrale Ausländerbehörde des Landes Brandenburg (ZABH) rechnen ab 2025 mit jährlich 300-400 Flughafenasylverfahren am Flughafen BER (Landtag Brandenburg Drs. 7/4377, S. 2). Dies würde eine extreme Steigerung bedeuten, denn die Anzahl der dort bisher durchgeführten Flughafenasylverfahren lag 2021 bei 41 Verfahren (2020: 5, 2019: 19, 2018: 33, 2017: 15, 2016: 5, 2015: 3). Träfen die Schätzungen zu, wäre der Flughafen Berlin Brandenburg als Standort für Flughafenasylverfahren gleichauf mit Frankfurt a.M. (BT-Drucks. 20/1673, S.3).
Wir halten das Flughafenasylverfahren nach § 18a Asylgesetz für rechtsstaatlich höchst fragwürdig. In Asyl-Schnellverfahren haben Schutzsuchende gegenüber dem regulären Asylverfahren gravierende Nachteile. Dazu zählen die enorm kurzen (Klage-)Fristen sowie die durch die Inhaftierung bedingten großen Hürden beim Zugang zu unabhängiger Beratung und anwaltlicher Vertretung. Darüber hinaus ist der Rechtsschutz im Flughafenverfahren stark eingeschränkt. Personen, die als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden, sitzen häufig wochen- bis monatelang in der an das Flughafenasylverfahren anschließenden Zurückweisungshaft fest. Im Flughafenverfahren werden regelmäßig auch Familien mit Kindern inhaftiert. Darüber hinaus bestehen EU-rechtlich grundsätzliche Zweifel an der Zulässigkeit der Inhaftierung von Schutzsuchenden im Flughafenverfahren (siehe EuGH-Urteil vom 30. Juni 2022, Rechtssache C-72/22 PPU, Verfahren M. A.).1
Die Ablehnungsquote im Flughafenverfahren ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, von 5,1 Prozent in 2013 auf 52,7 Prozent in 2019. Die extrem kurzen Fristen und die regelmäßig fehlende rechtliche Beratung im Vorfeld der Asylanhörung führen zudem zu überproportional hohen Ablehnungsquoten als „offensichtlich unbegründet“ im Vergleich zum regulären Asylverfahren (siehe hier, S.9).
2) Freiheitsentzug ist ein massiver Grundrechtseingriff
Neben der geplanten Ausweitung des Flughafenasylverfahrens sehen wir auch den geplanten Ausbau des „Ausreisegewahrsams“ als einer Form der Abschiebungshaft in Schönefeld höchst kritisch. Nach aktuellem Planungsstand sind im geplanten „Transit- und Gewahrsamsgebäude zukünftig etwa 120 Haftplätze vorgesehen. Das entspricht fast einer Versechsfachung der aktuell zur Verfügung stehenden Plätze, denn der Asyl- und Ausreisegewahrsam am BER verfügt aktuell über 20 belegbare Plätze (Landtag Brandenburg Drs. 7/4370, S. 6). Das Innenministerium Brandenburg geht in einer Schätzung von künftig 600-700 Inhaftierungen im Ausreisegewahrsam pro Jahr aus. Auch dies wäre eine drastische Steigerung.
Freiheitsentzug stellt einen massiven Eingriff in die Grundrechte dar, weshalb er gemäß Artikel 104 Grundgesetz richterlich angeordnet bzw. unverzüglich, möglichst am selben Tag, überprüft werden muss. Das Asylgesetz sieht abweichend hiervon eine erstmalige richterliche Überprüfung der Inhaftierung Asylsuchender erst nach 30 Tagen vor. Die Inhaftierung kann sich stark negativ auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen auswirken. In der Praxis kommt es mit großer Regelmäßigkeit zu schweren Verfahrensfehlern: So hat sich nach Statistiken des Rechtsanwalts Peter Fahlbusch aus Hannover jede zweite richterlich verfügte Abschiebungshaft bei der anwaltlich veranlassten Überprüfung als rechtswidrig erwiesen. Auch vor dem Hintergrund dieser Fehlerquote ist jegliche Form der Abschiebungshaft kritisch zu sehen und der Bau einer neuen Haftanstalt am Flughafen abzulehnen. Die Größenordnung aktueller Prognosen der Landesregierung zu zukünftigen Gewahrsamsfällen am BER lässt befürchten, dass Brandenburg künftig systematisch davon Gebrauch machen will. Abschiebehaft darf laut Europarecht immer nur ultima ratio sein, wenn der Zweck der Haft nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Mehr Haftkapazitäten führen erwiesenermaßen nicht zu mehr Abschiebungen.
3) Teilhabe statt Inhaftierung und Abschiebungen
Die aktuellen Pläne zum Bau des sogenannten Ein- und Ausreisezentrums sind ein Vermächtnis des ehemaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer und stehen in einer Kontinuität der Abschreckung und Abschottung. Anstatt der massiven Ausweitung des Freiheitsentzugs und der Zunahme von Asylschnellverfahren unter Haftbedingungen sowie einem geplanten Anstieg von Abschiebungen sollte das Flughafenasylverfahren abgeschafft, die bestehende Haftanstalt am Flughafen BER geschlossen und die Inhaftierung von Geflüchteten beendet werden.
In Brandenburg und bundesweit müssen stattdessen die Förderung von Teilhabe von Geflüchteten sowie das Ausschöpfen von Bleiberechtsmöglichkeiten im Zentrum stehen. Das Flughafenasylverfahren geht zu Lasten der Fairness und Rechtsstaatlichkeit. Der Ruf nach ‚konsequenteren‘ und ‚effizienteren‘ Abschiebungen führt regelmäßig dazu, dass Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl sie seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, hier leben und arbeiten oder schwer krank sind.
Die Stellungnahme wurde initiiert von PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Flüchtlingsrat Brandenburg und Flüchtlingsrat Berlin.
1 Der Gerichtshof bekräftigt darin seine Auffassung, dass eine „Haft“ im Kontext der Aufnahme von Asylsuchenden bereits dann vorliegt, wenn Personen von der Bevölkerung isoliert und ihrer Bewegungsfreiheit beraubt werden, indem ihnen auferlegt wird, permanent in einem begrenzten und geschlossenen Bereich zu bleiben, der nicht ohne Genehmigung und Begleitung verlassen werden darf. In einer solchen Haft muss eigentlich Art. 8 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU gelten (Inhaftierung nur nach Einzelfallprüfung, wenn „weniger einschneidende Maßnahmen“ nicht wirksam angewandt werden können).
Erstunterzeichnende:
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF)
Bundesfachverband zur Unterstützung von Menschen in Abschiebehaft (Bumah)
Equal Rights Beyond Borders
Humanistische Union
Jugendliche ohne Grenzen (JoG)
JUMEN
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)
Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“
PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein
Seebrücke
Sea-Watch
Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ)
Abschiebehaftberatung Nord
Aktionsbündnis Neuruppin bleibt bunt
Aktionsbündnis Bad Freienwalde ist bunt
Alarm Phone Berlin
Arbeitsgruppe Flucht und Migration des Evangelischen Kirchenkreis Oberes Havelland
Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg
AWO Kreisverband Berlin-Mitte
Bayerischer Flüchtlingsrat
Be an Angel
Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS)
BIPoC Ukraine & friends in germany
borderline europe
Bündnis Glückstadt gegen Abschiebehaft
Bürger*innenasyl Barnim
ESTA Ruppin
Evangelischer Kirchenkreis Potsdam
Flüchtlingsrat Baden-Württemberg
Flüchtlingsrat Berlin
Flüchtlingsrat Brandenburg
Flüchtlingsrat Bremen
Flüchtlingsrat Hamburg
Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern
Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen
Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz
Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
Flüchtlingsrat Thüringen
Hessischer Flüchtlingsrat
Iuventa-crew
Justizwatch
KommMit-PSZ
Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen (KuB)
Medibüro Berlin | Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen
Migrantenbeirat der Landeshauptstadt Potsdam
Migrantifa Berlin
Migrationsrat Berlin
Moabit Hilft
Niedersächsischer Flüchtlingsrat
No Lager Osnabrück
Opferperspektive
Pangea Projekt
PAWLO-Masoso
Refugee Emancipation
Saarländischer Flüchtlingsrat
Sächsischer Flüchtlingsrat
Seebrücke Berlin
Seebrücke Potsdam
Verein iranischer Flüchtlinge
weltweit – die Freiwilligengruppe von Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg
We’ll Come United Berlin/Brandenburg
Willkommenskreis Neuhardenberg
Wir Packen’s An
Women in Exile
XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte
Weitere Unterzeichnende:
Abolish Frontex
Abschiebehaftkontaktgruppe Dresden
Aktion Freiheit statt Angst
Aktionsbündnis Brandenburg
Aktionsbündnisses „Offenes MOL – Aktionsbündnis für Menschlichkeit und Solidarität“
AStA der Technischen Universität Berlin
ERIDAC (Eritrean Initiative for Dialogue and Cooperation)
Ev. Kirchenkreis Berlin Stadtmitte
Institut für Demokratieentwicklung, Berlin
ISA – Gesellschaft für Inklusion und Soziale Arbeit
No Border Assembly
Runder Tisch Asyl und Migration in Potsdam Mittelmark
Sprungbrett Zukunft Berlin
Students For Future HU Berlin