h6. I. Notwendigkeit des internationalen Schutzes für Afghanen
Während derzeit sehr viele Menschen insbesondere aus den Nachbarländern freiwillig nach Afghanistan zurückkehren, sind dennoch weiterhin Afghanen gezwungen, ihren Wohnort aus Furcht vor Verfolgung zu verlassen.
In der aktuellen Situation genießen viele Afghanen keinen wirksamen nationalen Schutz in Afghanistan und benötigen deshalb weiterhin internationalen Schutz und humanitäre Hilfe. Bestimmte Gruppen von Afghanen haben weiterhin eine begründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen, die in Artikel 1 A (2) des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) aufgeführt sind. Andere, die aus besonders betroffenen Teilen des Landes stammen, könnten auf Grund der Auswirkungen verbreiteter Gewalt und Unruhen internationalen Schutz benötigen.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft und der Schutzbedürftigkeit von Afghanen der provisorische und instabile Charakter der gegenwärtigen Situation zu berücksichtigen. Die Regierung wurde erst kürzlich gebildet, und die Vereinbarung über die gegenwärtigen vorläufigen staatlichen Einrichtungen gilt nur für einen Zeitraum von 18 Monaten bis im Jahr 2004 Wahlen stattfinden. Deshalb ist nicht bekannt, wie der Staat (die Zentralbehörden) im Hinblick auf bestimmte Kategorien von Personen oder Gruppen handeln wird und ob es bald ein rechtsstaatliches System geben wird, das Schutz gegen Maßnahmen örtlicher Behörden und anderer Urheber von Verfolgung bieten kann.
Die gegenwärtige Übergangsphase ist durch die Aufsplitterung bestimmter Landesteile in De-facto-Einflusszonen (Verteilung der Macht auf eine Reihe von „Kriegsherren“), ein Machtvakuum in anderen Landesteilen und Spannungen auf Grund des Wettstreits um Einfluss zwischen unterschiedlichen Akteuren gekennzeichnet. Außerdem kontrolliert die ernannte Interimsregierung nicht das gesamte afghanische Territorium. Im Hinblick auf die Urheber von Verfolgung muss unter diesen Umständen die Möglichkeit der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure weiterhin in Betracht gezogen werden. Die in der Vergangenheit begangenen Menschenrechtsverletzungen durch Mitglieder von an die Macht zurückgekehrten Gruppen (einschließlich der Dschamiat-i-Islami, der Hisb-i-Wahdat und der Dschombesch-i-Melli-i-Islami) zeigen, dass solche Risiken weiterhin bestehen.
h6. II. Schutzbedürftige Personen
Auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen zu Afghanistan gibt es Hinweise, dass unter anderen Personen mit den folgenden Profilen in besonderem Maße Gefahr laufen, Opfer von Gewalt, Übergriffen oder Diskriminierung zu werden:
(i) Personen, die mit dem kommunistischen Regime verbunden waren oder von denen dieses angenommen wird, sowie andere, die sich für einen säkularen Staat eingesetzt haben
Obwohl die Interimsregierung ein „Gesetz über die würdevolle Rückkehr afghanischer Flüchtlinge“ erlassen hat, ist die Situation in Bezug auf Personen, die als Mitglied der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (People’s Democratic Party of Afghanistan – PDPA) und als Ergebnis ihrer früheren beruflichen oder anderen Aufgaben dem früheren kommunistischen Regime angehörten oder mit ihm verbunden waren, unklar.
Obwohl sie nicht von den Zentralbehörden verfolgt werden, können sie weiterhin Gefahr laufen, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden. Inwieweit diese Möglichkeit besteht, hängt von einer Reihe von Faktoren einschließlich der folgenden ab: a) dem Ausmaß der Identifizierung mit der kommunistischen Ideologie, b) dem Rang oder der Position, den/die sie zuvor bekleideten, c) Bindungen innerhalb der Familie und Großfamilie, d) Bildungsstand und Auslandsaufenthalt.
In diesem Kontext muss darauf hingewiesen werden, dass die Übergangsverwaltung sowie regionale und örtliche Behörden von früheren Mudschaheddin-Gruppen und einigen Royalisten aus der vorkommunistischen Zeit dominiert werden.
Die Gruppen, bei denen ein potenzielles Risiko eine sorgfältige Beurteilung erfordert, umfassen:
* Hochrangige Mitglieder der PDPA unabhängig davon, ob sie zur Parchamoder zur Khalk-Gruppe der Partei zählten. Die meisten PDPA-Mitglieder lebten während des kommunistischen Regimes in Kabul oder anderen Städten. Sie werden nur in Gefahr sein, wenn sie bewaffneten Gruppen als solche bekannt sind. Dies gilt für (i) Mitglieder von Zentral-, Provinzstadt und Bezirkskomitees der PDPA und ihre Familienangehörigen, (ii) Leiter und hochrangige Mitglieder gesellschaftlicher Organisationen wie der Demokratischen Jugendorganisation oder der Demokratischen Frauenorganisation auf Landes-, Provinz-, Stadt- oder Bezirksebene.
* Frühere Angehörige der Armee, der Polizei und des Geheimdienstes Khad des kommunistischen Regimes sind ebenfalls generell gefährdet, und zwar nicht nur durch die Behörden, sondern mehr noch durch die Bevölkerung (Familien von Opfern), weil sie mit Menschenrechtsverletzungen während des kommunistischen Regimes in Verbindung gebracht werden. Bei der Prüfung von Anträgen von Angehörigen von Armee, Polizei und Geheimdienst sowie von hochrangigen Amtsträgern bestimmter Ministerien muss sorgfältig die Anwendbarkeit der Ausschlussklauseln von Artikel 1 F des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 geprüft werden. Bis zu einem gewissen Grad waren viele dieser früheren afghanischen Amtsträger direkt oder indirekt an massiven und verbreiteten Menschenrechtsverletzungen beteiligt.
(ii) Bestimmte Frauenprofile
Nach dem Sturz der Taliban wurden die erlassenen Verbote bezüglich Erwerbstätigkeit und Bildung von Frauen und die gesetzlich verhängten strengen Verhaltensregeln für Frauen aufgehoben. Diskriminierende und konservative Traditionen bestehen jedoch fort, und die Existenz bewaffneter Gruppen wird Frauen weiterhin einer Gefährdung aussetzen und möglicherweise zu Verfolgung von Frauen führen. Es hat Berichte über Vergewaltigungen durch Mitglieder bewaffneter Gruppen gegeben, und in Kabul zirkulierten Drohungen gegen Frauen und Mädchen im schulpflichtigen Alter, die sich nicht entsprechend den traditionellen Bekleidungsvorschriften bedeckten.
Nach einer Reihe ermutigender Entwicklungen zu Gunsten afghanischer Frauen insbesondere in städtischen Gebieten organisierten islamische Konservative eine Einschüchterungskampagne gegen die frühere Ministerin für Frauenfragen Sima Samar, der sie vorwarfen, erklärt zu haben, sie glaube nicht an die Scharia (das islamische Recht). Diese Kampagne wurde während der außerordentlichen Loya Jirga intensiviert, woraufhin Sima Samar das Angebot ablehnte, dem neuen Karsai-Kabinett als Ministerin für Frauenfragen anzugehören.
Vor diesem Hintergrund sollten die folgenden Kategorien von Frauen bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet und potenzieller Verfolgung ausgesetzt eingestuft werden: a) allein stehende Frauen ohne wirksame männliche Unterstützung und/oder Unterstützung der Gemeinschaft und b) Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen oder die dies tatsächlich tun.
(iii) Personen, denen Verfolgung aus politischen Gründen durch Gruppen droht, die jetzt ihr Herkunftsgebiet kontrollieren
Wie bereits beschrieben, befindet sich Afghanistan auf dem Weg von einer Übergangsregierung zu einer dauerhaften Regierung, gleichzeitig jedoch in einer Situation, die durch das Wiedererstarken von Kriegsherren gekennzeichnet ist, die sich Berichten zufolge neu bewaffnen und die De-facto-Macht in ihren jeweiligen Gebieten erneuern. In dieser angespannten Situation nehmen Berichte über Fälle von politisch motivierter Festnahme und Inhaftierung sowie von verdeckter oder offener Bedrohung und Einschüchterung zu, wobei die Opfer Personen mit einer anderen politischen Zugehörigkeit als die Machthaber sind. In einzelnen Fällen stellt sich politische Opposition als ein definierendes Merkmal der Verfolgung heraus.
(iv) Personen, die aus Gebieten stammen, in denen sie eine ethnische Minderheit bilden (insbesondere Afghanen paschtunischer Volksgruppenzugehörigkeit), und dorthin zurückkehren
Aus einigen Gebieten Afghanistans liegen Berichte über die Verfolgung ethnischer Minderheiten durch örtliche Befehlshaber in Form von Erpressung, Misshandlung, Inhaftierung und sogar Mord vor. Solche Berichte sind bestätigt für der paschtunischen Volksgruppe angehörende Afghanen in Gebieten im Norden und Westen Afghanistans, in denen sie die Minderheit bilden. Dies gilt insbesondere für Farjab, Jawsjan, Baghlan, Kundus, Takhar, Sar-I-Pul und Samangan, aber auch inund um Herat, wo vor allem Vertriebene betroffen sind.
Die Paschtunen bilden insgesamt die größte Volksgruppe in Afghanistan, stellen aber eine Minderheit im Norden dar, wo die Volksgruppen der Tadschiken, Usbeken und insbesondere der Hasara in der Mehrheit sind und die Macht ausüben. Dass Paschtunen überhaupt im Norden leben, ist im Wesentlichen eine Folge einer vorsätzlichen Siedlungspolitik im letzten Jahrhundert mit dem Ziel, die Vollzugsgewalt der damaligen paschtunisch dominierten Regierung zu stärken. Die Paschtunen wurden erfolgreiche Landbesitzer und begründeten Handels- und Geschäftsinteressen in Städten wie Kundus und Baghlan. Sie erlangten auch eine führende Rolle als Kreditgeber und erwarben bei Überschuldung der Kreditnehmer weiteren Grund und Boden oder ließen ihn beschlagnahmen. Seit dem Sturz der Taliban werden Berichte bekannt, nach denen paschtunische Dorfbewohner oder andere Zivilisten von Seiten örtlicher Kriegsherren und anderer Angehöriger der den Norden kontrollierenden Gruppen (Dschombesch-i-Melli-i-Islami, Hisb-i-Wahdat und Dschamiat-i-Islami) Schikanierung, Einschüchterung und diskriminierender Behandlung sowie Gewaltakten, Banditentum und Verfolgung ausgesetzt sind. Dies hat viele Paschtunen veranlasst, zu fliehen.
Zu den Motiven für den derzeitigen Umgang mit den paschtunischen Minderheitengruppen zählen unter anderen die mögliche Vergeltung für die vierjährige Fremdherrschaft der Taliban im Norden (1997 – 2001) und ihre Behandlung der Usbeken, Tadschiken und Hasara. Die Situation ist weiter gekennzeichnet durch die Dürre und Vertreibungen, die die Rivalität um knappe Ressourcen (Wasser, Grund und Boden) und die Spannungen zwischen den Gemeinschaften selbst innerhalb homogener ethnischer Gruppen verschärft haben.
(v) Personen, von denen angenommen wird, dass sie mit dem Taliban-Regime verbunden waren oder es unterstützt haben
Die Taliban waren bei weitem keine einheitliche Bewegung und umfassten ein breites Spektrum von Afghanen, das von relativ gemäßigten bis zu extremen Konservativen reichte. Entscheidungen über übergeordnete politische und militärische Angelegenheiten wurden in einem exklusiven Kreis an der Spitze der Bewegung getroffen, der immer in engem Kontakt zu Mullah Mohammad Omar in Kandahar stand. Ihre Umsetzung unterschied sich jedoch von Ort zu Ort und von einem Zeitraum zum nächsten.
Es wird allgemein angenommen, dass die meisten einfachen Taliban bereits in ihre Herkunftsgemeinschaften entweder in Afghanistan oder in Pakistan zurückgekehrt sind. Einige hundert Taliban-Kämpfer wurden von der Interimsregierung aus der Haft entlassen, weil sie angeblich eingezogen worden waren und „unschuldig“ sind.
Dennoch gibt es Berichte über die Anschuldigungen, Diskriminierung und Bedrohung von Zivilisten, die während des Taliban-Regimes in der Verwaltung gearbeitet haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese das Ausmaß von Verfolgung annehmen, ist umso größer, je höher die Position und je größer der Einfluss der Betroffenen war. Parallel dazu steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Ausschlussklauseln zur Anwendung kommen
können.
(vi) Konvertiten
Eine große Gefahr der Verfolgung besteht weiterhin für Afghanen, die verdächtigt oder beschuldigt werden, vom Islam zum christlichen oder jüdischen Glauben konvertiert zu sein. Die Konversion gilt in ganz Afghanistan als Vergehen, das mit dem Tod bestraft wird.
(Zusammenstellung: UNHCR Berlin, Juli 2002/April 2003)