*Ute Gniewoß, Pfarrerin in Velten und seit Jahren aktiv in der Flüchtlingsarbeit, besuchte kürzlich das „Dorf der alle zusammen“ auf der griechischen Insel Lesbos. Was sie dort gesehen und erlebt hat, bietet Anstöße für Visionen für ein „Europa von unten“ – vielleicht auch gradeim ländlichen Raum in Brandenburg:*
„Ich wasche wieder alle Bettlaken, aber beim Aufhängen brauche ich Hilfe.“ „Bäckst du nächste Woche wieder Brot – erstmal sechs am Tag?“ „Wenn jetzt wieder ein bisschen Geld da ist, könnten wir nicht doch einen Garten anlegen?“ Gesprächsfetzen, die an Diskussionen in Wohngemeinschaften erinnern. Und tatsächlich, mehr als 20 Menschen sitzen beieinander und organisieren ihr gemeinsames Leben. Sie stammen aus sieben verschiedenen Ländern, es wird griechisch, englisch, französich, arabisch und paschtu gesprochen. Flüchtlinge, Freiwillige und ein ehemals obdachloser Grieche planen die nächste Woche und besprechen anstehende Probleme. Trotz der Sprachbarrieren werden schnell Lösungen gefunden. Sie sitzen draußen, es ist warm, einige Kinder spielen um sie herum und drei Hunde räkeln sich im Schatten.
Diese fast idyllisch anmutende Szene auf der Insel Lesbos in Griechenland im Mai dieses Jahres hat einen brutalen Hintergrund. Seit 2012 versuchen Flüchtlinge die Außengrenze Europas vom türkischen Festland her mit Booten zu überwinden. Der frühere Fluchtweg über den Fluss Evros ist ihnen durch einen Zaun, Bewachung und Mienen versperrt. Auf der Ostseite von Lesbos kann man die 9 km entfernte türkische Küste sehen. Etwa einhundert Menschen sind in den letzten Jahren auf diesem Fluchtweg umgekommen. Ihre Boote sind gekentert, weil sie seeuntüchtig waren oder von großen Wellen eines Kreuzfahrtschiffes erfasst wurden. Die Küstenwache und Schiffe von europäischen Frontex-Einheiten haben die Flüchtlinge nicht immer gerettet, sondern manchmal sogar beschossen oder in türkische Gewässer zurückgeschleppt und ihrem Schicksal überlassen. Wer es bis auf die Insel Lesbos schafft, kommt in ein Internierungslager. Das neue Lager in dem Ort Moria, aus EU-Mitteln errichtet, kostet 8 Millionen Euro. Der Bau ist fast fertiggestellt und hat eine Aufnahmekapazität von 800 Menschen. Wer als Flüchtling auf Lesbos landet, wird dorthin gebracht und registriert. Falls die betreffende Person einen Asylantrag stellen möchte, wird sie darauf hingewiesen, dass sie dann aber bis zu 18 Monate in Moria bleiben muss. Viele stellen keinen Asylantrag und werden nach einigen Tagen oder Wochen entlassen. Sie bekommen ein Schreiben, das darauf hinweist, dass sie sich nur noch 30 Tage in Griechenland aufhalten dürfen. Die Absurdität der Situation wird deutlich, wenn man den Betroffenen begegnet. Afghanische Familien, die Jahre gewaltsamer Auseinandersetzungen erlitten haben und nun auf ein neues Leben in Europa hoffen, werden wie Kriminelle behandelt. Schutzsuchende treffen auf Uniformierte und Bewaffnete, die sie einsperren.
Wer aus Moria entlassen wird, weiß oft nicht wohin. Es gibt kein Geld, keine Unterkunft, keine Arbeit. Vor einigen Jahren hat sich auf Lesbos das Netzwerk „Das Dorf der alle zusammen“ gegründet, das aus kleinen Organisationen, Kirchengemeinden und einzelnen Bürgern besteht. Flüchtlinge und verarmte griechische Menschen werden unterstützt. Als 2012 sechzig Flüchtlinge auf dem größten Platz des Hauptortes Mytilini lagerten, wurde das Netzwerk wieder stärker gebraucht. Sie trotzten dem Bürgemeister das Gelände eines ehemaligen Kinderfreizeitzentrums ab, wo sie die Flüchtlinge unterbrachten. Seit zwei Jahren versorgen sie ehrenamtlich 30 Flüchtlinge ständig und etwa zwei mal pro Woche noch 40 bis 50, die aus Moria entlassen werden und für ein paar Tage bei ihnen Schutz suchen bis sie nach Athen weiterreisen. Bis zu 400 Menschen gleichzeitig wurden schon versorgt – nur durch Freiwillige und Spenden! In kleinen Holzhütten stehen bis zu zehn Feldbetten, nah beieinander; die Familien sind in einem festen Haus untergebracht. „Pikpa“ heißt diese Herberge, ein Name, der auch für andere soziale Einrichtungen in Griechenland verwendet wird. Hier wird nicht registriert und reglementiert, sondern freundlich empfangen. Den Flüchtlingen wird zugehört, sie werden beraten, so gut es geht und sie dürfen bleiben und durchatmen. „Wir machen das Normale, denn es ist nicht normal, nichts wissen zu wollen und sich nicht um bedrückte Menschen zu kümmern,“ sagt Efi Latsoudi, eine der Organisatorinnen.
Bei den Europawahlen hat die rechtsextreme Partei („Goldene Morgenröte“) in Griechenland 9,4% bekommen. Es ist eine Partei, die nicht nur Stimmung macht gegen Fremde, sondern deren Mitglieder auch Menschen dunkler Hautfarbe zusammenschlagen und umbringen. Das Netzwerk „Dorf der alle zusammen“ lebt dagegen die Vision eines Europas, in dem jeder einzelne Mensch zählt und Respekt verdient. Die Ängste werden genauso ernst genommen wie die Hoffnungen der Ankommenden. Dieses Netzwerk ist wenig bürokratisch und gewährt keine professionelle Rundumversorgung, aber hier gelingt etwas, was uns Besucherinnen zutiefst beeindruckt hat: die Flüchtlinge erleben unaufdringlichen warmen menschlichen Beistand. Bei der Arbeit des Netzwerkes werden persönliche Bindungen zu Ärzten und Lehrerinnen ebenso genutzt, wie die zu Restaurantbesitzern oder politisch Verantwortlichen. Eine Kirchengemeinde hat zeitweise 80 Plastikboxen an Gemeindeglieder ausgeteilt, die beim täglichen Kochen in der Familie mitgefüllt und für die Flüchtlinge und bedürftige griechische Familien abgegeben werden. Nicht wenige der im Netzwerk besonders engagierten Frauen sind arbeitslos und damit selbst mit sehr existenziellen Fragen konfrontiert. In Griechenland gibt es weder für Griechen noch für Flüchtlinge eine mit Hartz IV vergleichbare Grundsicherung.
Am Tag nach der Europawahl sind wir, die Gäste aus Deutschland, mit zu einem großen Essen im Freien eingeladen. Mitarbeiterinnen eines Restaurants bringen einige Bleche mit Pastizio und die aus dem Ort kommenden griechischen Gäste steuern Kleinigkeiten bei. Viele sitzen zusammen und erzählen, es wird gestikuliert und gelacht. Ein Mann aus dem Kongo erklärt der deutschen Julia: „Wenn Gott will, werden wir in Europa ankommen.“ Einige Wenige halten sich ein bisschen abseits. Da ist der Überlebende, der mehrere Familienmitglieder verloren hat und ein junger Mann aus dem Iran, der Kinderbücher liest. Eine Frau aus dem Kongo beklagt wütend den Rassismus, den sie erlebt hat. Eine Griechin erzählt: „Ich wollte nicht mehr, dass mein Leben bestimmt ist von „der Krise“ und ich finde Europa darf nicht so mit Flüchtlingen umgehen.“ Einige unterhalten sich darüber, ob es gelingen könnte ein vegetarisches Restaurant zu eröffnen, das ein paar Arbeitsplätze und einen Treffpunkt bieten könnte. Eine Syrerin sitzt still mit am Tisch. Auf meine Frage, wie es ihr gehe, sagt sie: „Ein Sohn ist in Dänemark, ein Sohn in Schweden, meine Tochter und ich sind hier, mein Mann in Syrien. Seit Monaten habe ich nichts von meinem Mann gehört.“ Diese Frau hat zur Zeit keine Perspektive, wenig Hoffnung und kein Geld. Aber sie hat eine griechische Freundin, die sie regelmäßig besucht und oft in den Arm nimmt. Gott sei Dank.
Die Autorin konnte auch mit Hilfe von Lesern und Leserinnen unserer Zeitung Spenden in Höhe von 3759,50€ übergeben, die mit großem Dank entgegengenommen wurden. Wer das Netzwerk unterstützen möchte, kann überweisen an: Evang. KK-Verband Eberswalde,IBAN: DE 40 210 60 237 0010 1629 65, BIC: GENODEF1EDG, Bitte unbedingt angeben: „Flüchtlingsarbeit KK Lesbos“.Wer eine Spendenbescheinigung braucht, melde seine Adresse bitte bei utegniewoss@web.de.