Der Flüchtlingsrat hat heute einen offenen Brief an Brandenburgs Ministerpräsidenten Dr. Woidke zur Einstufung der Maghreb-Staaten als „sichere Herkunftsstaaten“ veröffentlicht.
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Offener Brief zur Einstufung der Maghreb-Staaten als «sichere Herkunftsstaaten»
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dr. Woidke,
sehr geehrter Herr stellvertretender Ministerpräsident Görke,
voraussichtlich am 17. Juni 2016 steht im Bundesrat die Zustimmung zum Gesetz über die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als «sichere Herkunftsstaaten» (Bundestagsdrucksache 18/8039) im Sinne des § 29a AsylG auf der Tagesordnung. Wir richten den dringenden Appell an Sie, mit den vier Stimmen des Landes Brandenburg der erneuten Ausweitung der Liste der «sicheren Herkunftsstaaten» die Zustimmung zu verweigern. Diese Einstufung eines Staates hat für Asylsuchende aus diesen Ländern gravierende Konsequenzen.
Ursprünglich sah das Konzept der «sicheren Herkunftsstaaten» lediglich vor, dass von vornherein angenommen wurde, dass Asylanträge von Personen aus diesen Staaten prinzipiell unbegründet seien und dass dies im Einzelfall von den Betroffenen widerlegt werden müsse. Diese Grundannahme führte in vielen Fällen dazu, dass Asylverfahren oft nach nur oberflächlicher Prüfung sehr schnell als «offensichtlich unbegründet» abgelehnt wurden.
Doch neben diesen gravierenden Einschränkungen im Asylrecht wurde auch das Aufenthaltsrecht in den letzten Monaten um viele weitere Vorschriften ergänzt, die dazu führen, dass Personen aus als «sicher» bezeichneten Staaten hier einer ganzen Reihe von zusätzlichen Sanktionen und Ausgrenzungen ausgesetzt sind:
Asylsuchende aus «sicheren Herkunftsstaaten» müssen für die gesamte Dauer des Asylverfahrens in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben und nach einer Ablehnung auch bis zur Ausreise – das heißt, eine Verteilung in die Landkreise und die kreisfreien Städte findet nicht mehr statt. Dadurch soll verhindert werden, dass sie sich hier integrieren können, denn dies wird als Hindernis für eine reibungslose Abschiebung angesehen. Als Nebeneffekt bedeutet dies auch, dass sie für den gesamten Zeitraum des Aufenthalts in der Bundesrepublik einer Sachleistungsverpflegung unterliegen, da in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Großteil der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf diese Weise geleistet wird.
Auch bleibt die Residenzpflicht, die in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren hatte und für andere Asylsuchende nur noch in den ersten drei Monaten besteht, für diese Gruppe weiterhin zeitlich unbegrenzt in Kraft. Zusätzlich zu der allgemeinen Strafbewehrung von bis zu einem Jahr Gefängnis oder Geldstrafe sieht das Gesetz seit dem Asylpaket II vor, dass auch ein simpler Residenzpflichtverstoß dazu führen kann, das das Asylverfahren ganz ohne inhaltliche Prüfung eingestellt wird, wenn Betroffene in einer «besonderen Aufnahmeeinrichtung» untergebracht sind. Die Möglichkeit, solche «besonderen Aufnahmeeinrichtungen» zu schaffen, wurde den Ländern ebenfalls durch das Asylpaket II eingeräumt.
Schlussendlich kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schon direkt bei der Ablehnung eines Asylantrags ein Wiedereinreiseverbot aussprechen, eine Sanktion, die ansonsten nur im Fall einer Abschiebung oder Ausweisung erfolgt, nicht jedoch durch die simple Tatsache, dass jemand im Asylverfahren abgelehnt wurde. Sämtliche hier angesprochenen Sanktionen und Ausgrenzungsmechanismen sind seit dem Sommer 2015 oder später in das Gesetz aufgenommen worden, also seit es die Diskussion über die Einstufung der Staaten des West-Balkans als «sichere Herkunftsstaaten» gab. Damals wurde die Büchse der Pandora geöffnet, jetzt gilt es, zumindest den menschenrechtlichen und integrationspolitischen Schaden nicht noch größer werden zu lassen.
Doch auch abgesehen von prinzipiellen Erwägungen in Bezug auf das Konzept der «sicheren Herkunftsstaaten» steht die Menschenrechtslage in allen drei Staaten einer Einstufung als «sichere Herkunftsstaaten» diametral entgegen. Amnesty International führt in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Algerien, Marokko und Tunesien aus, warum Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und Misshandlungen, aber auch der fehlende Schutz vor sexualisierter Gewalt und das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte eklatant gegen die Einstufung als «sicherer Herkunftsstaat» sprechen (vgl. http://www.amnesty.de/files/Amnesty-Stellungsnahme-Innenausschuss-April2016.pdf).
Aber auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung selbst weist auf erhebliche Defizite im Justizsystem hin:
In Bezug auf Algerien heißt es dort etwa: «Die Rechte der Beschuldigten im Prozess werden nicht immer beachtet. Die Gerichte üben in der Regel keine wirksame Kontrolle staatlichen Handelns aus. Die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern ist in der Praxis nicht immer gewährleistet. Geltende Gesetze und Vorschriften werden nicht immer einheitlich und flächendeckend angewandt. (…) Den Bürgerinnen und Bürgern fehlt nach wie vor das Vertrauen in die Justiz, sie sehen vor allem in politisch relevanten Strafverfahren Handlungsbedarf. Nach belastbarer Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten nimmt die Exekutive in solchen Fällen unmittelbar Einfluss auf die Entscheidungen des Gerichts» (BT-DS 18/8039 , S. 10). Zu Tunesien spricht der Gesetzentwurf selbst von extralegalen Tötungen in Haft und Fällen von Folter: «Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte Nichtregierungsorganisationen, wie die Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) oder die Organisation contra la Torture en Tunisie (OCTT), berichten kontinuierlich über Einzelfälle von Folter, insbesondere in der Polizeihaft, unmenschliche Behandlung in den Haftanstalten, die nicht europäischen Standards entsprechen, sowie Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Bislang sei es jedoch in keinem einzigen Fall gelungen, eine Verurteilung von Amtspersonen oder ehemaligen Amtspersonen wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu erreichen» (BT-DS 18/8039, S. 15).
Sehr geehrte Mitglieder des Bundesrates für das Land Brandenburg, schon aus dem Gesetzentwurf selbst geht also hervor, dass sich die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als «sichere Herkunftsstaaten» nicht rechtfertigen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hat für eine solche Einstufung gemäß § 29 a AsylG hohe Hürden errichtet: «Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat muss Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen» (BVerfGE 94, 115). Das Konzept der «sicheren Herkunftsstaaten» darf nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht angewandt werden, «wenn ein Staat bei genereller Betrachtung überhaupt zu politischer Verfolgung greift, sei diese auch (zur Zeit) auf eine oder einige Personen- oder Bevölkerungsgruppen begrenzt. Tut er dies, erscheint auch für die übrige Bevölkerung nicht mehr generell gewährleistet, dass sie nicht auch Opfer asylrechtlich erheblicher Maßnahmen wird» (BverfGE 94, 115, Rn. 71). Werden die Kriterien des BVerfG auf die Menschenrechtssituation in Algerien, Marokko und Tunesien angewandt, so führt insbesondere die Verfolgung Homosexueller in allen drei Staaten dazu, dass die Staaten nicht in die Liste der «sicheren Herkunftsstaaten» gem. § 29a AsylG aufgenommen werden dürfen.
Wir appellieren daher – auch im Namen der vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, der Flüchtlingsinitiativen und Beratungsstellen – an Sie, den Flüchtlingsschutz nicht weiter auszuhöhlen und der Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als «sichere Herkunftsstaaten» aus verfassungsrechtlichen Gründen Ihre Zustimmung zu verweigern.
Mit freundlichen Grüßen
Flüchtlingsrat Brandenburg
Tel.: 0331 – 71 64 99