h6. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 26.09.2004
h6. Auffanglager in Nordafrika sollen Europa vor illegal Einwandernden schützen und Asylbewerber vor der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer bewahren. Eine alte Idee findet neue Anhänger.
Stephan Israel, Brüssel
Europas neuer Mann für Sicherheit, Recht und Freiheit sorgt schon vor seinem Amtsantritt am 1. November für Schlag-zeilen: Die illegale Immigration stelle für die Europäische Union eine „Zeitbombe“ dar, sagte der Italiener Rocco Buttiglione. Eine Lösung sieht der künftige Kommissar für Justiz und Inneres in Auffanglagern, die in nordafrikanischen Ländern wie Libyen eingerichtet werden sollen. Dort könnte aussortiert werden, wer eine Chance auf einen Arbeitsplatz oder auf Asyl innerhalb der EU hat, ganz nach dem Motto: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Der Newcomer stellt immerhin erstmals eine Immigrationspolitik in Aussicht, wenn auch eine streng regulierte. Die Sozialdemokraten im EU-Parlament haben bereits angedroht, Buttiglione bei der Anhörung am 5. Oktober besonders kritisch zu befragen.
Dabei hatte Buttiglione nur einen Vorstoss des deutschen Innenministers Schily aufgenommen. Schily möchte die Idee der ausgelagerten Asylzentren bereits kommende Woche im niederländischen Scheveningen beim Treffen mit den EU-Amts-kollegen diskutieren. Vor einem Jahr war der britische Premierminister Blair mit einem ähnlichen Vorschlag noch abgeblitzt. Nach einem Sommer mit Nachrichten von Seelenverkäufern in Seenot und gestrandeten „Boat People“ auf den spanischen Kanaren oder der italienischen Insel Lampedusa findet die Idee jedoch neue Anhänger. Beim Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schätzt man, dass mehr als 5000 Menschen in den letzten zehn Jahren auf dem Weg nach Europa ertrunken sind. Auch auf den Landwegen durch die Sahara verdursten immer wieder Migranten.
h6. Vorwurf des Populismus
Man könne die Leute nicht einfach im Mittelmeer sterben lassen, und Italien dürfe mit dem Flüchtlingsproblem nicht alleine gelassen werden, sagte Schily bei seinem Vorstoss vor zwei Monaten. Von den 25 Mitgliedstaaten sind auch Italien, Grossbritannien und Österreich dem Vorschlag wohlgesinnt. Litauens Innenminister Bulovas schlug diese Woche an einem Gipfel der baltischen Staaten und Österreichs speziell für tschetschenische Flüchtlinge ein Auffanglager in der Ukraine vor. Der mit der Ukraine nicht abgesprochene Vorschlag löste in Kiew prompt Protest aus. Man will nicht für Europa den Gendarmen spielen. Innerhalb der EU sind vor allem Schweden, Finnland und Frankreich gegen die Lager vor den Toren der Festung Europa. Die Kritiker halten die Idee für unausgegoren, für ein populistisches Konzept.
Auch beim UNHCR kann man Auffanglagern in Ländern wie Libyen wenig abgewinnen. Libyen habe weder ein Asylgesetz, noch habe das Land die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, sagt Diederik Kramers vom UNHCR-Büro in Brüssel. Die Behörden in Tripolis haben Ende August trotz internationalem Protest asylsuchende Eritreer einfach in ein Charter-flugzeug gesetzt.
Die EU würde sich auf juristisches Glatteis begeben, sollte sie die Camps als eine Art Eingangsschleuse für Europa in Libyen oder der Ukraine betreiben, warnt Kramers. Schily wirbt dafür, die Empfangszentren ausserhalb der EU mit Brüsseler Geldern zu finanzieren. Dabei wäre unklar, welches Recht zur Anwendung käme. Die Lager würden zudem schnell zum Magnet für Migranten und wären ein ideales Rekrutierungsfeld für Menschenschmuggler, gibt man beim UNHCR zu bedenken.
Einig sind sich alle, dass Europa das Migrationsproblem gemeinsam anpacken muss. Massnahmen, die Europa noch stärker zur Festung machten, seien aber nicht dazu geeignet. Länder wie Libyen tun sich schon heute schwer mit ihrer Lage als Frontstaat.
h6. Schnellboote für Ghadhafi
Ansätze, über das Mittelmeer hinweg zu kooperieren, gibt es. Die Gruppe „5+5“ mit Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Malta auf der einen Seite sowie Algerien, Tunesien, Mauretanien, Libyen und Marokko auf der anderen hat sich vor einer Woche zum dritten Mal getroffen. Der Maghreb sei heute nicht mehr Ursprung, sondern in erster Linie Transitregion für Arbeitsmigranten aus dem südlichen Afrika und aus Asien auf dem Weg nach Europa, sagt Redouane Saadi von der Internationalen Organisation für Migration in Genf, die bei den Treffen Beobachterstatus hat. Mit der Osterweiterung der EU und den stärkeren Kontrollen an den Aussengrenzen habe der Weg über das Mittelmeer an Bedeutung gewonnen.
Allein in Libyen hält sich nach Schätzungen eine Million Menschen im Transit auf. Tripolis hat die Flüchtlinge bisher auch als Druckmittel verwendet, um Europa zur Aufhebung des Embargos gegen das libysche Regime zu bewegen. Vergangene Woche hat die EU grünes Licht für die Aufhebung der letzten Sanktionen erteilt. Damit wird Italien auch die bereits bestellten Schnellboote und Nachtsichtgeräte zur Überwachung der 2000 Kilometer langen Küste Tripolis übergeben können.